Geheime Daoistische Überlieferungen – Darstellungen die das Kultivieren des Dao und das Erlangen der Unsterblichkeit erörtern
Von alters her haben in China die Daoisten Selbstkultivierung (innere Alchemie) betrieben, sie haben sich dem Erforschen und dem Praktizieren der Unsterblichkeit gewidmet. Sie vertreten, dass Himmel und Mensch eins sind (tianren heyi), dass das Dao (der Weg) der Natur folgt. Sie praktizieren Klarheit, Stille und „nicht eingreifen“ (wu wei) und vertreten, dass Energie (Ming) und Geist (Xing) zusammen kultiviert werden müssen. Diese Methoden wurden von Generation zu Generation im Verborgenen überliefert und nur an Eingeweihte weitergegeben.
Das Wissen der Unsterblichkeit, auch Huanglao zhi xue genannt (die Schule des gelben Kaisers und Laozi), ist Grundlage und Kern des Daoismus. Die drei alten Klassiker „der Gelbe Kaiser“, „das Dao De Jing“ und „das Buch der Wandlungen“ (Yi jing) erklären die Theorie aus verschieden Blickwinkeln. Nachdem in der östlichen Han-Dynastie der “König“-der-„inneren Elixier“-Bücher, das „Zhouyi Cantong Qi“ geschrieben wurde, entstanden in den darauffolgenden Dynastien unzählige Werke, die sich mit dem Thema beschäftigten. Ausserdem wurden esoterische Darstellungen zur Anleitung des Kultivierens der Energie (Ming) und des Geistes (Xing) gelehrt, welche nur an auserwählte Personen weitergegeben und als Geheimnis gehütet wurden. Der Stellenwert dieser Zeichnungen kann man durchaus mit jenem der Thangka im tibetischen Buddhismus vergleichen.
Es gibt über hundert solche Darstellungen, die in den verschiedenen daoistischen Schulen über die Jahrtausende überliefert wurden. Die Bilder „der Kultivierung des Wahren“ (Xiuzhen Tu), „der inneren Wege“ (Neijing Tu), „der Regulierung des Feuers“ (Huohou Tu) und „der Methode des Herzens“ (Xinfa Tu) geniessen den höchsten Status und setzen sich am meisten mit dem Praktizieren des „inneren Elixiers“ auseinander.
In diesem Artikel wollen wir kurz auf die ersten beiden und auch bekanntesten Darstellungen eingehen. Die erwähnten vier Darstellungen wurden innerhalb verschiedener daoistischer Schulen, unabhängig voneinander, im Verborgenen übermittelt und in Theorie und Methode weiterentwickelt, bis Ende Ming-/Anfang Qing-Dynastie (ca. 17. Jh.) die Entwicklung ihren Höhepunkt erreicht hatte.
Da sich aber im Laufe der Zeit beim Kopieren der Darstellungen Fehler eingeschlichen haben, sind einige Zeichnungen mangelhaft. Darum ist es eine der Aufgaben der heutigen Daoisten, die verschieden Ausgaben der Karten zusammenzubringen und zu bereinigen.
In den 80er-Jahren bekam Xi Chun-Sheng, Stammhalter der zweiten Generation der „tausend Gipfel früher Himmel Schule“ (Qian Feng xiantian pai) (*)des Daoismus, den Auftrag seines Meisters Niu Jin-Bao, die Darstellungen zusammenzutragen und zu bereinigen. In den 90er-Jahren begann Herr Xi mit seinen Schülern, die sich im Umlauf befindenden Ausgaben der Darstellungen zu verifizieren, korrigieren, vervollständigen und nach 15 Jahren Arbeit neu zu veröffentlichen. Nicht nur wurden die Texte und Zeichen korrigiert und vervollständigt, es wurden auch verloren gegangene Inhalte wieder hinzugefügt und die Darstellungen eingefärbt, um sie besser verständlich zu machen.
„Die Kultivierung des Wahren“ Darstellung (xiuzhen tu)
Die Darstellung des “Kultivierens des Wahren“ ist eine Durchleuchtung des menschlichen Körpers. Darin werden Funktion und Position der Kardinalspunkte (guanqiao), der acht Gefässe und der Organe wiedergegeben. Es werden astrologische Symbole wie der Polarstern, die 28 Sternbilder, die Mondphasen, die 24 Jahreseinteilungen und die Hexagramme des Yi-Jing erörtert, wie sie den alchemistischen Prozess im Körper umschreiben. Die Daoisten sagen: “Der Himmel hat drei Kostbarkeiten: Sonne, Mond und Sterne; die Erde hat drei Kostbarkeiten: Wasser, Feuer und Wind; und der Mensch hat drei Kostbarkeiten: Essenz (Jing), Energie (Qi) und Geist (Shen).“ Himmel, Erde und Mensch sind drei Aspekte des Einen. Der Himmel entspricht der Psyche (xing), die Erde entspricht dem Körperlichen (ming). Diese beiden Aspekte werden in der inneren Alchemie zusammen kultiviert und können nicht getrennt werden. Des Weiteren werden in der Darstellung die geistigen und körperlichen Eigenschaften der sechs Organe beschrieben. Die sechs Organe sind die fünf Speicherorgane Herz, Leber, Milz, Lunge und Niere, die wir aus der chinesischen Medizin kennen plus die Gallenblase. Zusammen werden sie in der inneren Alchemie des Daoismus die sechs Speicherorgane genannt.
„Die Kultivieren des Wahren“-Darstellung vereinigt die Theorien und Grundlagen des „Yijing“, des „Gelben Kaisers“, des „ Zhouyi Cantongqis“ und des „Klassikers des gelben Hofes (Huangting Jing)“ mit der Erfahrung und Praxis der Adepten zu einem integralen Ganzen. Vom Inhalt und von Textuntersuchungen der Darstellung her muss man annehmen, dass das Bild aus der Yuan- oder Ming-Dynastie(1271-1644) stammt. Die sich noch im Umlauf befindenden Exemplare sind ausschliesslich Schwarz- Weiss-Abdrucke, oft mit fehlenden oder falschen Schriftzeichen. Meister Xi hat die verschieden Versionen zusammengetragen, korrigiert und mit dem Wissen, das ihm mündlich überliefert wurde, vervollständigt und zum ersten Mal, um der Verständlichkeit willen, eingefärbt.
Die „Inneren Wege“ Darstellung (neijing tu)
Die Darstellung der Inneren Wege (Meridiane), auch bekannt als die Karte der inneren Landschaft (Ansicht), hat ihren Ursprung im Neijing (Klassiker des Gelben Kaisers). Sie hat das Wasser als Ursprung und benutzt es, um Himmel und Erde zu verbinden. In der Natur ist das Wasser der Ursprung des Lebens, das Wasser wird zu Qi (Energie) und bildet so die Landschaft. Analog verhält es sich mit den Kultivierungsmethoden des Daoismus. Mit dieser Analogie erklärt die Darstellung der inneren Ansicht die Bedeutung von “Xing“ (Geist) und „Ming“ (Energie).
Die Darstellung hat die Form eines Flaschenkürbisses wie auch die Kontur eines Menschen. In der Abbildung findet man Gestirne wie Sonne, Mond und Sterne; Berge, Flüsse, Wälder, Pässe sowie Menschen mit ihren Gerätschaften. Das Bild ist ausserdem mit Gedichten aus dem daoistischen Klassiker des Gelben Hofes, mit Texten eines der acht Unsterblichen Lü Dong-bin, buddhistischen Sutren und Metaphern aus der daoistischen Alchemie beschrieben. Geschickt zusammengefügt ergibt sich daraus ein schönes Bild, in dem Himmel und Mensch eins sind und das Dao dem Gesetz der Natur folgt. Die Abbildungen sind keineswegs willkürlich, jeder Mensch, jeder Berg ist geschickt und natürlich in der Landschaft eingeordnet und hat dort seinen Platz und seine Bedeutung.
Bis in die Ming- (1368-1644) und Qing-Dynastie (1644-1911), als immer mehr Menschen von der Darstellung Bescheid wussten, wurde die Darstellung der inneren Wege in den daoistischen Tempeln als Kostbarkeit im Verborgen gehalten. Darum nahm man an, dass die Darstellung das Werk jener Zeit war, bis man im Mai 2010 in Ruicheng, dem Heimatort von Lü Dong-bin, bei Restaurationsarbeiten im Puren Yang Tempel (Chun Yang Shang Gong) per Zufall entdeckte, dass das Gelände und die Verteilung der Ruinen einiger alter Tempel frappante Ähnlichkeit mit der Landschaft der Darstellung der inneren Wege aufweisen. Im selben Jahr noch beriet sich die Regierung Ruichengs mit der „Beijing Daoist Association“. Unter der Leitung von Herrn Xi stellte man fest, dass die beiden Landschaften in Form, Farbe und Bedeutung der Namen verblüffende Übereinstimmung haben. Herr Xi konnte sich vor Ort überzeugen, dass die Landschaft um Ruicheng, die Anlegung der alten Tempel und Namensgebungen zusammen eine natürliche Darstellung der „inneren Wege“ wiedergeben. Von daher muss angenommen werden, dass die Darstellung anfangs Yuan Dynastie (1271-1368) entstanden ist.
(*) Begründer der „Tausend Gipfel früher Himmel“-Schule war Zhao Bi-Chen (1860-1942), der alte Herr der Tausend Gipfel. Sein Buch „Xing Ming Fajue Mingzhi“ wurde von Charles Luk unter dem Namen „Taoist Yoga“ übersetzt.
Xi Chun-Sheng
Herr Xi Chun-Sheng, geb. 1951 in Beijing, hat 1972 unter Meister Niu Jin-Bao angefangen, Daoistische Alchemie zu lernen. Meister Niu war Schüler von Zhao Bi-Chen, dem alten Herrn des Tausend-Gipfel-Berges, Begründer der Tausend-Gipfel–Schule (Qian Feng Dao) und Überlieferer der 11. Generation der „vollkommenden-Wirklichkeit“- Schule (Quanzhen Dao). Neben daoistischer Alchemie hat Herr Xi von namhaften Lehrern Wudang-, Wu- und Yang-Stil Taiji gelernt. Herr Xi ist heute Stammhalter der 2. Generation der Qianfeng xiantian Schule und Vorstandmitglied in der Beijing Daoist Association.
Übersetzung
erfolgte durch Nicolas Leimgruber
Hinweis
Im November 2013 hat Herr Xi zu den Darstellungen und über die Theorie der daoistischen Kultivierungsmethoden und ihren Zusammenhang bzw. die Unterschiede zur chinesischen Medizin erstmals in der Schweiz ein Seminar abgehalten. (Direktlink)