Schmerzen und äussere Verletzungen in der klassischen chinesischen Medizin – Ein Interview mit Andrew Nugent-Head

NL: Andrew, du warst ja über 20 Jahre in China, kannst du uns kurz etwas über deinen Werdegang in der chinesischen Medizin erzählen, speziell wie du die äussere Medizin gelernt hast?

ANH:  Ich bin 1967 geboren. Wie viele meiner Generation kam ich erstmals in meiner Jugendzeit durch die Kung Fu Filme mit der chinesischen Medizin und der Kampfkunst in Kontakt. Aber mein erstes reales Erlebnis mit Trauma- Medizin war, als ich in Taiwan lebte. Ich hatte einen Kampfkunst-Lehrer, der zugleich auch Praktizierender der chinesischen Medizin war. Der Lehrer behandelte in seiner Klinik Patienten, während die Schüler vor der Tür Kung Fu übten und der Lehrer von Zeit zu Zeit die Schüler aus dem Fenster beobachtete und gegebenenfalls korrigierte. In jener Zeit waren viele Patienten des Lehrers Gang-Mitglieder, die oft in Schlägereien verwickelt waren und somit mit Knochenbrüchen und sonstigen Verletzungen zu ihm kamen. Nachdem ich drei Monate in Taiwan war, hatte ich in einer regnerischen Nacht einen Motorradunfall, bei dem ich mir den Mittelfuss gebrochen hatte. Da ich damals noch nicht gut Chinesisch konnte und die Spitäler auch nicht den besten Ruf hatten, entschied ich mich, meinen Lehrer um 4.30 Uhr aus dem Bett zu rufen. Er öffnete die Tür, und das einzige Wort, das er sagte war: Motorradunfall? Ich bekam dann eine intensive  Behandlung, die Schröpfen, Blutigstechen, Akupunktur, Knochenrichten und Kräuteranwendungen  beinhaltete. Die Behandlung war schmerzhaft, aber ich konnte den Fuss nach 12 Stunden wieder belasten, und der scharfe Schmerz war verschwunden. Bereits nach zwei Wochen war ich mit einem Rucksack in Thailand unterwegs am Reisen. Der Erfolg der Behandlung faszinierte mich so sehr, dass ich mich entschied, chinesische Medizin zu lernen.

Später, Ende der 80er Jahre, ging ich nach Beijing und studierte zuerst mit Prof. Wang Jinhuai und in den 90erJahren bis 2003 mit Dr. Xie Peiqi chinesische Medizin. Im Jahr 2005 wurde ich Schüler des dazumal über 80-jährigen Dr. Li Hongxiang. In den 80er und anfangs der 90er Jahre war die medizinische Versorgung in den Spitälern in China relativ schlecht und viele Ärzte ab dem Mittag betrunken. Niemand wollte, wenn nicht unbedingt nötig, in ein Krankenhaus gehen. Also suchten die Leute diese alten, pensionierten Ärzte auf, in die sie mehr Vertrauen hatten. Die Fälle, die ich dadurch zu sehen bekam, waren, wenn es sich nicht um Notfälle handelte, doch meist dringlicher Natur: Knochenbrüche, offene Wunden, Hautausschläge usw. Für mich war die chinesische Medizin darum immer sehr greifbar und effektiv. Erst nachdem ich anfing, für ausländische  Studenten an Spitälern an den Spitälern zu übersetzen  und somit Kontakt zur universitären Medizin bekam, realisierte ich, dass die meisten Leute glaubten, chinesische Medizin sei langsam und nur bei chronischen Verletzungen wirksam. Sie behandle zwar die Wurzel des Problems, aber für dringliche Fälle solle man besser westliche Medizin in Anspruch nehmen. Es war für mich sehr irritierend zu erfahren, dass das Wissen der alten Lehrer nicht allgemein verbreitet war. Dr. Xie allerdings führte damals, obwohl schon über 70 Jahre alt, noch immer eine sehr erfolgreiche Praxis bei sich zuhause.

Die 90er Jahre in Beijing waren eine, gelinde gesagt, recht „wilde Zeit“. Es war die Zeit, in der viele neue Qi-Gong-Stile erschienen und nicht wenige Leute durch schlechtes Praktizieren mentale Probleme bekamen. Es war auch die Zeit des ersten wirtschaftlichen Aufschwungs, und die Leute hatten Nachholbedarf beim Feiern und im Alkohol trinken.  Sicherheitsvorschriften bei der Arbeit wurden nicht eingehalten, und so gab es immer wieder Unfälle mit Knochenbrüchen, gerissenen Muskeln usw. Da, wie gesagt, das allgemeine Vertrauen in die staatlichen Krankenhäuser gering und Dr. Xie so bekannt war, behandelte er all diese Verletzungen in seiner Praxis. Er wurde auch immer wieder von der Polizei gerufen, wenn in der Nachbarschaft jemand eine akute psychotische Störung hatte. Ich musste dann diese Patienten festhalten, während Dr. Xie sie akupunktierte. Ich erinnere mich an meinen ersten Tag in seiner Praxis. Als sein offizieller Medizin-Schüler bestand meine Aufgabe darin, einem Wanderarbeiter, dem in einer Maismühle die halbe Hand abgehackt wurde, den Verband zu wechseln und  eine neue Kräuterpaste aufzutragen, während Dr. Xie einem anderen Patienten das gebrochen Steissbein wieder richtete.

NL: Das scheint eine ganz andere Welt gewesen zu sein, in der du chinesische Medizin gelernt hast. Da du nun wieder in den USA lebst, hast du wahrscheinlich nicht mehr so viele akute und gravierende Verletzungen zu behandeln. Was für Verletzungen siehst du nun oft?

ANH: Natürlich, die Intensität der Verletzungen kann nicht verglichen werden mit der Zeit, in der ich in China assistiert und praktiziert habe. Meine Leidenschaft neben der chinesischen Medizin ist die Kampfkunst. Wenn man in diesen Kreisen verkehrt, hat man aber eine gute Chance, Trauma-Medizin anzuwenden. Es gibt in den Trainings und Kämpfen immer wieder Verletzungen wie z.B. eine ausgerenkte Schulter oder sogar Knochenbrüche. In den Staaten ist die medizinische Versorgung, selbst wenn man versichert ist, sehr teuer. Viele haben nicht so viel Geld, also kommen sie oft zu uns oder zu Leuten wie Vince Black oder Tom Bisio, die in China und Taiwan Kampfkunst und Trauma-Medizin gelernt haben und damit bekannt geworden sind.

Behandelte ich früher in China pro Monat mehrere Patienten mit gebrochenen Knochen, ist es heute vielleicht ein Patient im Monat, der wegen eines gebrochenen Knochens zu mir in die Klinik kommt. Von Gesetzes wegen muss ich die Patienten in ein Krankenhaus schicken, aber diese Patienten wollen aus den verschiedensten Gründen kein Krankenhaus aufsuchen, also behandeln wir sie. Wenn man ausgebildet ist, diese Art von Verletzungen erfolgreich zu behandeln, kommen die Patienten von alleine. Aber was ich heute vielmehr antreffe, sind Patienten, die nach einer misslungenen Operation oder auch nach gelungener Operation immer noch Schmerzen haben und unsere Hilfe in Anspruch nehmen. Wir müssen reparieren, was schlecht oder gar nicht repariert worden ist. Praktikanten in unserer Klinik sind am Anfang oft schockiert, wie physisch die Medizin bei uns praktiziert wird. Aber im Vergleich zu meiner Zeit in China ist die Intensität natürlich viel kleiner. Es gibt genug Raum für die chinesische  Medizin hier im Westen, und solang man fundierte in  Trauma-Medizin Ausbildung hat, kommen die Leute von alleine, denn speziell hier in den USA ist die westliche Medizin sehr teuer und viele Leute misstrauen ihr.

 

NL: Welche Methoden verwendest du in der Klinik, und wie unterscheidet sich deine Ausbildung von der universitären-TCM?

ANH: Die Situation in den Spitälern in China ist die, dass meistens nur chronische Verletzungen behandelt werden. Man sieht viel Schröpfen, dicke Akupunktur-Nadeln und Gelenksmanipulationen und denkt: Ah, das ist chinesische Medizin! Doch, wenn man chinesisch lesen kann, steht da geschrieben: „Abteilung für physikalische Medizin.“ Die Methoden sind chinesisch, aber die Theorie  ist westlich. Die Ärzte, die dort arbeiten, haben alle einen Hintergrund in westlicher Medizin. Es ist schwierig, in den grossen  Städten jemanden zu finden, der Verletzungen behandelt und nicht eine westliche Perspektive auf die Verletzung hat. In meiner Erfahrung ist westliche Medizin sehr passiv, wenn es um äussere Verletzungen geht. Es ist noch nicht lange her, dass man den Patienten nach einer Operation ohne grosse Nachbehandlung entlassen hatte. Erst seit einigen Jahren lässt man die Patienten nach der Operation nicht einfach ruhen, sondern schickt sie nun  wenigstens in die Physiotherapie. Dieses Konzept “des Nichtstun“ oder „des Wartens“ der westlichen Medizin gibt es in der chinesischen Medizin nicht. Die Verletzung wird kontinuierlich behandelt, bis sie besser oder gut ist. Das heisst: Gerade bei schweren Verletzungen behandeln wir oft täglich oder wenigstens jeden zweiten Tag, was vom Patienten auch einen grösseren Einsatz verlangt. Wenn ein Patient zu uns in die Klink kommt, wird die Verletzung diagnostiziert und anhand der Eingangs- und Ausgangsmuster behandelt. Das heisst: Die Linien zur und weg von der Verletzung werden behandelt. Der Patient wird mit Massage, Akupunktur, Schröpfen oder Blutigstechen behandelt. Dazu bekommt er in Alkohol eingelegte Kräuter oder Öle zum Einreiben oder Trauma-Medizin zum Einnehmen, um den Heilungsprozess zu beschleunigen und Entzündungen zu reduzieren oder vorzubeugen. Wenn man gewillt ist, diesen Einsatz zu erbringen, kann man den Heilungsprozess erheblich verkürzen. Meine persönliche Erfahrung mit einem Knochenbruch war, dass er anstatt in den üblichen 4-6 Wochen in nur 2 Wochen ausgeheilt war.

Vielleicht noch einige Worte zur Herstellung von Kräuterpasten und -ölen. Die Herstellung ist einfacher als viele denken. Ich unterrichte meinen Schülern immer, wenn es um äussere Verletzungen geht, wie sie aus einfachen Mitteln, die man in einem Supermarkt und einer Apotheke bekommt, effektive Trauma-Medizin herstellen können. Denn erstens hat man nicht immer seine Apotheke bei sich und zweitens ist es ein Irrglaube zu denken, es müssten unbedingt chinesische Kräuter sein, damit es funktioniert.

 

NL: Es kommen ja immer öfter Patienten mit degenerativen Gelenkschmerzen in die Klinik. Was sind deine Überlegungen, wie man diese Patienten am besten behandelt?

ANH:   Wir haben immer wieder Patienten in unserer Klink, denen gesagt wurde, dass Sie eine Knieoperation brauchen, da sie an Knorpelschwund leiden und  dadurch Schmerzen haben. Wir können diesen Patienten gut helfen und ihnen die Schmerzen nehmen, was aber nicht heisst, dass wir den Knorpel wieder aufgebaut haben. Knorpelschwund und Schmerzen treten meist zur gleichen Zeit auf, sind aber verschiedene Dinge. Der Schmerz kommt von verschiedenen Kraftvektoren, die das Gelenk zusammendrücken und das Gewebe im Gelenkspalt einklemmen. Dadurch wird der Qi- und Blutfluss vermindert, was zu Schmerzen und Entzündungen führen kann. Die Kraftvektoren, die auf das Gelenk drücken, entstehen oft durch Verletzungen an anderen Stellen im Körper. Können wir diese Vektoren lösen, wird der Druck vom Gelenk genommen und der Qi-und Blutfluss wieder erhöht. Dadurch werden die Entzündungen wortwörtlich ausgeschwemmt. Wenn das Gelenk nicht entzündet ist, schmerzt es auch nicht. Man hört oft, die chinesische Medizin sei esoterisch. Das ist nicht korrekt. Die chinesische Medizin ist die Medizin der Analogien, und wenn man hinter die Analogien schaut, ist es gesunder Menschenverstand. Die Klassiker und die alten Meister lehren uns, die Natur genau zu beobachten. Da die meisten von uns urban leben, ist es nicht offensichtlich. Wenn man aber genug Zeit in der Natur verbringt, bemerkt man, dass die Analogien offensichtlich sind und nicht esoterisch. Hier in der Schweiz kann man das sicher gut beobachten. Bei einem langsam fliessenden Bergbach stauen sich Zweige und Hölzer an gewissen Steinen oder Felsen und türmen sich auf, bis das Wasser nicht mehr zwischendurch, sondern nur noch daran vorbei fliessen kann. Die Gelenke in unserem Körper sind solche Stellen mit verringertem Fluss. Wenn man einen allgemein schlechten Stoffwechsel hat,  z.B. an Anämie oder an tiefem Blutdruck leidet, bleiben Stoffwechselprodukte an diesen „Felsen“, an denen der Fluss sowieso schon langsam ist, hängen. Darum ist es in der Schmerzbehandlung wichtig, das Gelenk zu „öffnen“, damit mehr Raum entsteht und ein besserer Fluss wieder hergestellt wird.  Wenn es um Verletzungen geht, ist der wahrscheinlich meist zitierte Spruch in der chinesischen Medizin: „Tong zhe bu tong,  tong bu tong ye“. „Wenn es fliesst, schmerzt es nicht, wenn es schmerzt fliesst es nicht“. Der Spruch wird leider nur oft missverstanden.  Es geht weniger um den Fluss, sondern mehr darum, dass man guten Eingang und Ausgang hat. Wie oben erwähnt, kann sich bei einem langsamen Fluss Treibgut ansammeln. So wird umgekehrt bei einem starken, schnellen Fluss das Treibgut zur Seite gedrückt und lagert sich dort ab. Wenn der Fluss zu stark ist, werden die Ablagerungen zur Seite gedrückt und können nicht mehr in den Strom zurückfliessen. Deshalb sieht man bei schnelleren Flüssen oft Schaumbildung und Schlammdepots  am Ufer, vor allem wenn sie eine Kurve machen, was dasselbe Prinzip ist. Wie kann ich also den Fluss verlangsamen, damit die beschädigten Stellen wieder Fluss bekommen und ausgewaschen werden? Bei jeder Verletzung muss man sich überlegen: Wo ist der Zugang zur Verletzung und wo der Ausgang? Muss ich den Fluss verlangsamen und sammeln oder muss ich das Angesammelte aufbrechen?  Der Entscheid, in welcher Reihenfolge die Behandlung bei akuten und chronischen Patienten erfolgen soll, ist nicht einfach. Wir müssen verstehen, was hinter dem Spruch „Wenn es fliesst, schmerzt es nicht, wenn es schmerzt, fliesst es nicht“ steckt. Welche Kräftevektoren wirken, hat es Ansammlungen, die ausgewaschen werden müssen oder muss man den Fluss verlangsamen? Sonst passiert, was ich heutzutage in China wie auch hier im Westen oft sehe. Die Patienten fühlen sich zwar nach der Behandlung besser, aber die Schmerzen kommen nach ein paar Tagen wieder zurück. Der Patient wird dann nach einem Monat sagen: „Akupunktur wirkt nicht“ oder er sagt: „Akupunktur ist teures Aspirin.“ Wenn es keinen Unterschied macht, ist es wohl einfacher, Aspirin zu nehmen. Um nicht wie Aspirin zu wirken, ist es wichtig zu lernen, wie man die Verletzung heilt.

 

NL: Die chinesische Medizin klassifiziert Probleme immer nach Yin und Yang. Wie unterscheidet man in der äusseren Medizin die Verletzungen, nach Qi- und Blut-Verletzungen?

ANH: Ich lege viel Wert auf die Unterscheidung von Qi- und Blut-Verletzungen, wobei man zuerst sagen muss, dass Qi- und Blut-Verletzungen ein und dasselbe sind. Es ist wie bei einem Farbspektrum. Qi und Blut bilden die gegensätzlichen Enden des Farbspektrums, aber beides sind Farben, und zwischen beiden Enden gibt es unzählige Schattierungen. In einer puren Qi-Verletzung hat der Patient intensive Schmerzen sowie Angst und er versucht, die Stelle des Schmerzes  zu verbergen. Er will sie nicht berührt haben, aber wenn man die Stelle dann wirklich berührt, ist sie nicht wahnsinnig schmerzempfindlich. Das Qi ist gefangen wie in einem Tornado, in dem sich der Wind unablässig  um sich selber dreht und Staub aufwirbelt.

Patienten mit einer Blut-Verletzung haben keine Angst, berührt zu werden. Sie sagen sogar oft, dass der Schmerz wohl tut, wenn man draufdrückt. Qi- und Blut-Verletzung treten natürlich oft zusammen auf, wie gesagt, pure Qi- und Blut-Verletzung bilden die gegenüberliegenden Enden des Spektrums. Wenn man bei einer Qi-Verletzung den angestauten Qi-Tornado durchbrechen kann, nimmt die Schmerzintensität augenblicklich ab und die Verletzung heilt schnell, sofern keine körperlichen Veränderungen wie z.B. ein Knochenbruch vorliegen.

NL: Sind dann Qi-Verletzungen eher akut, und Blut-Verletzungen eher chronisch?

ANH: Wenn ich mich mit einem Messer schneide, ist es eine Blut-Verletzung und akut. Es ist geht weniger darum, wie akut die Verletzung ist, sondern mehr um die Intensität der Verletzung. Zum Beispiel: Wenn wir uns aus Versehen in den Finger schneiden, ziehen wir manchmal die Hand zurück und umfassen sie mit der anderen Hand.  Wenn wir eine seltsame Angst davor haben hinzuschauen, obwohl wir uns offensichtlich nur ein wenig in den Finger geschnitten haben – ist das eine Qi-Verletzung. Wenn wir uns geschnitten haben, dann die Verletzung anschauen und denken: „Oh, habe ich mich geschnitten? Halb so schlimm“,  ist es eine Blut-Verletzung.  Beide Verletzungen sind akut, aber es ist die Intensität, die mit dem Qi verbunden ist. Ohne Qi würden wir den Schmerz nicht spüren. Darum ist der beste Verteidigungsmechanismus des Körpers, bei einer ernsthaften Verletzung  in einen Schockzustand zu gehen – der Körper oder respektive der Shen (Geist) stoppt die Fähigkeit, das Qi fühlen. Qi-Verletzungen sind nicht schwerer als Blut-Verletzungen, aber die Intensität der Reaktion, die wir wahrnehmen, ist grösser als bei Blut-Verletzungen. Meistens sind die Verletzungen aber ein Mix aus Qi und Blut. Ich unterscheide hier zwischen Qi und Blut. Wenn wir aber zum Beispiel Kräuterpasten und Salben herstellen, müssen wir auch verstehen, ob die Verletzung kalt oder heiss ist. Des Weiteren müssen wir uns überlegen, ob die Verletzung erschöpft und leer ist mit Symptomen wie Taubheit und Schmerzen oder ob es eine Völle-Verletzung ist, ohne die Möglichkeit abzufliessen mit Symptomen wie Hitze, Rötungen und Schwellungen. Ausserdem stellt sich die Frage, ob man die Verletzung direkt behandeln kann oder ob man zuerst eine andere Stelle akupunktieren muss, um die Intensität zu brechen. Folglich muss man zwischen Qi und Blut, heiss und kalt, Fülle und Leere und zwischen distaler und der Behandlung direkt an der Verletzung differenzieren. Wenn man das beherrscht, kann man äussere Verletzungen und Schmerzen sehr effektiv behandeln.

NL: Das tönt ganz nach den 8 Prinzipien der TCM Differential-Diagnose (bagang bianzheng)

ANH: Genau! Manchmal sind die Leute etwas enttäuscht, dass die Theorie nicht komplizierter ist. Die Komplexität der chinesischen Medizin kommt nicht von ihrer Theorie, sondern von der menschlichen Natur. Menschen und ihre Umgebung sind komplex. Menschen haben verschiedene soziale und kulturelle Hintergründe mit verschieden Gedanken, sie sind verschieden gross, haben unterschiedliche Alter usw. Das macht die Medizin kompliziert, nicht die Theorie.

NL: Das heisst, in deiner Behandlungsstrategie berücksichtigst du all diese Faktoren: das Alter des Patienten, den Gemütszustand, ist der Patient schwach oder stark usw. anstatt Protokollen für verschiedene Verletzungen zu folgen?

ANH: Richtig, ich denke, Protokolle sind der Todesstoss für die chinesische Medizin. Einem Protokoll zu folgen heisst, dass man sich nicht viel überlegen muss. Man macht etwas basierend auf dem Namen einer Verletzung und nicht basierend auf der Person, die vor einem liegt. In der chinesischen Medizin gibt es das Konzept:„Verschiedene Personen verlangen unterschiedliche Behandlungsmethoden“ (Yin ren er yi). Nur wird das selbst in China nicht mehr befolgt, und wenn es befolgt wird, fehlen oft die nötigen Fähigkeiten reale Medizin auszuüben und greifbare Veränderungen herbeizuführen. Wenn eine Patientin mit Schulter- oder Knieschmerzen kurz vor ihrer Periode steht oder die Periode hat, wird sie keine starke Akupunktur- Sitzung bekommen,  sondern sanfte Massage mit wärmenden Lotionen. Während der Menstruation fliesst das Blut nach innen und unten. Vielleicht tönt das esoterisch, ist es aber nicht. Wenn städtische, überarbeitete Frauen zur Behandlung kommen, stellt man bei aufmerksamer Betrachtung fest, dass sie dünn sind, fast keinen Puls haben, unter schmerzhafter Menstruation leiden, Wärme mögen etc. Wenn sie bei einer Konsultation auf einmal bleich und trocken im Gesicht sind, frage ich sie, ob sie ihre Periode haben und sie antworten verblüfft ja. Grund ist, dass weniger Blut bis zur Gesichtshaut kommt. Umgekehrt wird das Gesicht bei Schwangerschaften belebter und farbiger. Natürlich muss man die Person zuvor schon gesehen haben, um die Veränderung feststellen zu können. Wenn man aber aufmerksam hinschaut, lernt man die Muster schnell kennen. Bei einem übergewichtigen, kahlköpfigen Mann, der im Winter im T-Shirt in die Praxis kommt, sollte man nicht denken, er ertrage eine intensive Behandlung. Der Patient hat Bluthochdruck und würde von einer Überbehandlung Kopfweh oder vielleicht sogar einen Hirnschlag bekommen. Es ist wichtig, genau zu beurteilen, welche Behandlung der Patient aufgrund seiner Verletzung, seiner Konstitution und seines momentanen  Zustands  braucht. Wenn ein sonst gesunder Mensch wegen einer Verletzung zur Behandlung kommt, er aber wegen den intensiven Schmerzen 3 Tage nicht geschlafen hat, ist er, obwohl er eine gute allgemeine Konstitution hat, zu erschöpft für eine starke Behandlung. Die Strategie hier ist, zuerst die Qi-Verletzung zu lösen, damit die Schmerzintensität nachlässt und der Patient sich erholen kann und erst dann weitere Behandlungen durchführen. Die Intensität der Behandlung hängt von folgenden Faktoren ab: Wieviel Yin oder Flüssigkeit hat der Patient. Wieviel Yang oder Energie hat er? Ist er alt oder jung? Hat er Kälte in sich und ist schwach? Wie ist sein Zustand am Tag der Behandlung?                                                                                               Neben mir sitzt Fabio aus Italien. An seinem ersten Tag in unserer Klinik in Ashville, wurden wir zu einem Hausbesuch gerufen. Der 22-jährige Sohn eines  Freundes hatte einen schweren Autounfall. Er hatte mehrere gebrochene Knochen, einen Pneumothorax und eine Gehirnerschütterung. Nach einer Woche auf der Intensivstation musste ihn der Vater nach Hause holen, da er die Krankenhausrechnung nicht mehr bezahlen konnte. Wir sahen den Patienten das erste Mal am neunten Tag nach dem Unfall. Er konnte weder schlafen noch richtig essen, noch hatte er Stuhlgang, sein Qi war in einem Muster festgefahren. Während der ersten Behandlung gab der Patient auf einmal einen Ah-Laut von sich und sagte kurz darauf, dass er etwas hungrig sei. Fabio als ausgebildeter westlicher Arzt mutmasste, dass der Patient aufgrund der Behandlung eine Unterzuckerung erlitt, und hatte etwas Bedenken, dass er in einen Schockzustand fallen könnte. Da ich Fabio noch nicht gut kannte, sagte ich nichts und schmunzelte nur ein wenig vor mich hin. Als wir am nächsten Tag wieder vorbeigingen, hatte der Patient gegessen, Stuhlgang gehabt und zwölf Stunden geschlafen – die Qi-Verletzung war gelöst, und wir konnten im nächsten Schritt die Blut-Verletzungen angehen. Hätte ich aber von Beginn an die Blut-Verletzungen behandelt, hätte ich den Zustand des Patienten noch verschlimmert. Wir sehen nicht mehr so viele Trauma-Patienten wie in China, aber doch immer wieder welche. Wenn man die nötige Ausbildung dazu hat, kommen die Patienten von alleine. Selbst wenn man normalerweise solche Fälle nicht behandelt, kommt man immer wieder in Situationen, in denen man froh ist, dieses Wissen zu besitzen. Folgendes erzähle ich immer in meinen Kursen: Was macht man, wenn man nach einem Dreitagesmarsch in der Wildnis am Campieren ist und jemand in der Gruppe sich einen Knochen bricht oder eine klaffende Wunde mit Blutverlust hat? Sag ich dann: “Ich bin zwar TCM-Praktizierender, aber ich behandle nur chronische Probleme, für den Rest bin ich nicht ausgebildet worden”, und sehe zu, wie sich der Zustand des Freundes verschlechtert, oder trage ich ihn den Weg zurück auf die Gefahr hin, dass der Knochenbruch oder seine Gehirnerschütterung sich noch verschlimmert? Wir müssen vorbereitet sein für solche Fälle. Selbst wenn wir die Verletzung nicht selbst beheben können, sollten wir in der Lage sein, den Patienten so zu stabilisieren, dass er sicher zum nächsten Arzt oder ins Krankenhaus kommt. Selbst wenn man in abgelegen Gebieten Zugang zur westlichen Medizin bekommt, ist die Qualität der Behandlung nicht garantiert. Diese Tatsache vergisst man schnell, wenn man in der zivilisierten Welt lebt. Aber selbst hier gibt es genügend Raum für uns zu praktizieren. Es gibt viele Leute, die nach einer Operation immer noch Schmerzen haben. Ich persönlich könnte mir aber nicht verzeihen, wenn ich einem Patienten ins Gesicht sagen müsste, dass ich ihm nicht helfen könne, weil ich nicht über das notwendige Wissen verfüge, da ich gedacht hätte, es sei in der heutigen Zeit irrelevant. Ich denke, als Praktizierende haben wir eine Verantwortung, das Beste zu tun, was wir können, aber auch zu wissen, wann wir nichts unternehmen sollten. Die Aussage sollte hingegen nicht sein: Ich kann dir nicht helfen, weil ich gedacht habe, grundlegende Kenntnisse in der Trauma- Medizin seien in der heutigen Welt nicht mehr nötig.

NL: Vielen Dank, für das Gespräch

 

Das Interview führte Nicolas Leimgruber

Andrew Nugent-Head wird ab dem 13. Januar 2018 in Zürich sein komplettes  Programm „Akupunktur für äussere Medizin“ (6 Module) anbieten.