Greifbare Medizin – Ein Interview mit Andrew Nugent-Head

Greifbare Medizin – Ein Interview mit Andrew Nugent-Head

Der erste Teil des Interviews mit Andrew Nugent-Head ist im neuen YIN YANG Magazin erschienen.

Für alle die das Magazin nicht besitzen, ist der Artikel auch auf unserem Blog verfügbar.

YinYang - Dez 2015

Interview

DM: Können wir, bezogen auf deine Arbeit, traditionelles Wissen zu bewahren, über Abstammungslinien sprechen? Viele Praktizierende sind heutzutage begeistert von „klassischen Stilen“, die mehr zu bieten scheinen als die moderne TCM. Siehst du Nachteile darin?

ANH: Wir sind alle Teil einer Linie. Die Linie der chinesischen Medizin, die vor dem Gelben Kaiser begann, umfasst jedes Buch und jeden Praktizierenden, die diese Medizin bis heute geformt haben. Der Wunsch, etwas ausserhalb dieser Linie zu finden, heisst dass die Verbindung von klassischem Unterricht und klinischer Anwendung mangelhaft ist, was auch für einen Mangel an Praktikum im heutigen TCM-Modell steht. In den TCM-Programmen der Vereinigten Staaten besucht man das Praktikum zusammen mit anderen Studenten, wird vom Lehrkörper in einem geringen Ausmass gecoacht und schliesst dann das Studium mit einem Haufen finanzieller Schulden ab. Für Studenten in China sind Praktika Gruppenangelegenheiten mit grossem Patientenaufgebot, die Patienten werden in so schnellem Tempo abgefertigt werden, so dass die Möglichkeit, etwas aufzunehmen fast unmöglich ist.

Abstammungslinien, Mikrosysteme und Protokollmedizin springen da in die Lücke. Wir müssen vorsichtig sein mit auf Linien basierenden Praktiken. Sie können sowohl hilfreich wie nachteilig für unsere Entwicklung sein. Bis zu einem gewissen Grad impliziert eine Linien-Abstammung, dass man etwas hat, was andere nicht haben, dass man etwas nicht so praktiziert wie andere… Sonst würde man chinesische Medizin praktizieren wie sie in den Klassikern steht und nicht ein Stil oder System, die von einem Individuum oder einer Schule entworfen wurden, selbst wenn die Methode auf den Klassikern basiert.

Wenn man von einer klinischen Abstammungslinie kommt, die auf Wissenschaft basiert, dann ist die Einzigartigkeit der Linie die Art und Weise, wie man die Klassiker versteht und wie sie in der Praxis angewendet werden. Der Vorteil einer erfolgreichen Linie ist, dass der Lehrer dir helfen kann, die Fehler, die er und seine Lehrer gemacht haben, zu vermeiden. Das heisst auch, dass man nicht nur Lehrer hat, sondern selbst auch Schüler ausbildet, die einen herausfordern, das Wissen verständlich zu erklären, was zur Verfeinerung der Praxis führen kann.

Wenn du eine Linie erlernst, die nur auf praktischer Erfahrung oder Protokollen basiert, wird die Linie einer starren Kodierung von Techniken einer Familie oder einer bestimmten Sekte des Daoismus oder des Buddhismus folgen. Sogar unter den besten Umständen handelt es sich dabei um eine einseitige Lehrmeinung.

Wir leben in einer paradoxen Zeit: Viele Studenten lernen die Theorie aus Lehrbüchern und haben nach dem Diplom doch keine messbaren Fähigkeiten, und approbierte Praktizierende lernen Mikrosysteme und auf Protokollen basierende Medizin in Seminaren, was folgende Frage aufwirft: Wieso braucht es überhaupt eine Schule oder Theorie, wenn man sowieso alles mit Nadeln auf dem Bauch, ums Ohr oder um die Augen behandeln kann? Das Problem ist, dass die chinesische Medizin heutzutage hauptsächlich chronische oder subakute Krankheiten behandelt oder Beschwerden, die die westliche Medizin nicht als solche anerkennt oder nicht erfolgreich behandeln kann.

Mit dieser Methode gibt es wenig Auswirkung, wenn der Patient keine, nur unwesentliche oder temporäre Erleichterung erfährt. Man hatte mir immer eingeschärft, dass es nachteilig ist, schlechte Resultate zu erzeugen. Wenn man in früheren Zeiten mediokre Kampfkunst ausgeübt hatte, wurde man geschlagen, und wenn man schlechte Medizin praktizierte, hatte man keine Patienten.

Heutzutage können die chinesischen Künste praktisch ohne negative Nachwirkung ausgeübt werden. Taijiquan wird als Meditation und für die Gesundheit gelehrt anstatt für die Kampffähigkeit, für die Taijiquan berühmt war. Akupunktur wird hauptsächlich bei chronischen Belangen anstatt, wie in den Klassikern beschrieben, für akute Erkrankungen eingesetzt. Somit wird der Erfolg des Praktizierenden nicht mehr an seinen Fähigkeiten, Notfälle zu behandeln, gemessen.

DM: Besonders wenn man gut im Marketing ist …

ANH: Gut im Marketing hier im Westen, oder wenn man in einem Krankenhaus in China arbeitet.

Egal wie hoch der Erfolg ist, einfach nur aufgrund der grossen Bevölkerungszahl kommen in China täglich viele Patienten in die Klinik, um etwas Erleichterung für ihre Gebrechen zu finden. Aber eine finanziell erfolgreiche Klinik zu führen oder zu behaupten, 80 Patienten am Tag zu behandeln, heisst nicht, dass man selbst das tiefste Niveau eines Praktizierenden erreicht, wie es im Neijing beschrieben ist.

Im Neijing wird die Abstufung der Praktizierenden über ihren Erfolg definiert. Ein „top level“-Arzt behandelt 9 von 10 Patienten erfolgreich, ein „mid-level“- Arzt 7 von 10 und ein „low level“ -Arzt bewirkt bei 6 von 10 Patienten eine Verbesserung.

DM: Ich kann mich erinnern, dass Bob Flaws einmal sagte, es komme nicht drauf an, was man für Akupunktur mache, 70 Prozent der Patienten würden sich so oder so besser fühlen. Diese Vorstellung wird heute von vielen Forschungs-Studien bestätigt, die nahelegen, dass es eigentlich nicht darauf ankommt, wo man die Nadeln sticht.

ANH: Das mag für die chronischen/subakuten Patienten, über die wir gerade gesprochen haben, wahr sein; aber offensichtlich nicht, wenn man eine Amöbenruhr, ein akutes Trauma, einen anaphylaktischen Schock oder einen Herzstillstand hat. Bei solchen Forschungs-Studien gibt es eigentlich keinen Unterschied zwischen der wirklichen Akupunktur und der Sham-Akupunktur.

Wenn man eine Nadel in einen eigentlichen Akupunkturpunkt sticht und nichts unternimmt das Qi durch Handtechniken zu bewegen, sei es zu tonisieren oder sedieren, und wenn kein klares Resultat aufgrund der gewählten Techniken eintritt, wie z.B. ein Schweißausbruch, das Erröten oder Erblassen des Patienten oder andere starke Reaktionen, dann ist dies eine Sham-Akupunktur .

In solchen Forschungsstudien wird Sham mit Sham verglichen, und beide Gruppen erzielen ähnliche Resultate. Aber das sind keine Resultate, auf die man stolz sein kann. In der früheren Zeit der chinesischen Medizin wurde die Fertigkeit des Arztes an seiner Notfall-Medizin gemessen.

Man suchte keinen berühmten Arzt für einen Tennis-Ellbogen auf.

Es war Zufall, dass meine erste Erfahrung mit chinesischer Medizin ein Notfall war, also wusste ich nicht, dass es noch andere Behandlungsformen gibt. Als ich 18 Jahre alt war, brach ich in Taiwan meinen Fuß. Da ich Angst vor der damaligen Krankhausqualität hatte, ging ich zu meinem Kampfkunstlehrer, der auch chinesische Medizin praktizierte. Nachdem er den Bereich des Bruches kräftig mit einer Kräuterpaste einmassiert hatte, perforierte er die auf Grapefruitgröße angeschwollene Beule mit einer Nadel und schröpfte das geronnen Blut aus den soeben gestochenen Löchern. Nach 10 Minuten war die Schwellung zurückgegangen, und wir konnten unter der Haut die Knochen wieder erkennen. Sogleich wurden die Knochen wieder an die richtige Stelle manipuliert und eine neue Kräuterpaste aufgetragen.

Ich bekam eine Fuß-Schiene mit dem Auftrag, die Paste jeden Tag neu aufzutragen und eine Kräutermixtur einzunehmen. Das war wahrscheinlich die schmerzvollste Erfahrung meines Lebens, aber nach 2 Wochen konnte ich wieder normal gehen.

An meinem ersten Arbeitstag als Assistenzarzt bei Dr. Xie Pei Qi kam ein 21 jähriger Arbeiter vom Land, dessen Hand in eine Mais-Schälmaschine geraten war. Im Krankenhaus befürchtete man eine Knochenmarkentzündung und wollte den Arm an der Schulter amputieren, aber der junge Mann war gegen die Operation. Dr. Xie gab mir die Anweisung, die Binde zu entfernen, die Wunde zu reinigen, danach eine selbstgemachte Kräuterpaste aufzutragen und den Arm wieder zu bandagieren. Das war mein erster Traumapatient, den Dr. Xie mich behandeln ließ. Dr. Xie verarztete in der Zwischenzeit einen gebrochenen Coccyx. Das bedeutet, dass er einen Finger im Rektum des Patienten hatte, während er mit dem Daumen von außen die Knochen wieder richtete und anschliessend eine Paste im Rektum wie auch auf dem Gesäß auftrug.

Auf Grund dieser ersten Erfahrungen ist die chinesische Medizin für mich sehr greifbar und effektiv.

Das war mit ein Grund, wieso wir chinesische Wanderarbeiter gratis behandelten, dass heisst Menschen, die keinen Zugang zum Gesundheitssystem, aber einen großen Bedarf an medizinischer Behandlung haben. So behandelt man schließlich Patienten mit lebensgefährlichen Erkrankungen und auch solche, die chronische und alltägliche Gebrechen haben, wie zum Beispiel ein Patient mit Blinddarmdurchbruch, der sich trotz Überzeugungsarbeit weigert, ein Krankenhaus aufzusuchen. Wie man den Extrapunkt Lanweixue sticht und wie Patient reagiert, entscheidet, ob er septisch wird oder ob sein Körper den Eiter verarbeitet und er so am Leben bleibt. In solchen Fällen gibt es keinen Platz für „stechen wir die Nadel ein und warten auf die Magie der Akupunktur“. Auch werden nicht 70% der Blinddarmdurchbrüche besser, egal wie man behandelt. Wenn man in der Klinik diese Methode anwendet, kommt man weg von der Sham Akupunktur, in welcher es nicht wichtig ist, wie man sticht. Die richtige Art zu stechen ist wichtig!

DM: Aber einer Menge erfolgreicher Akupunkteure ist es egal, ob sie „Deqi“ erhalten – vielleicht mögen es ihre Patienten nicht – und haben trotzdem Erfolg, also bewegt diese Behandlungsform auch etwas.

ANH: Nur wenn der Patientenstamm mit dem Paradigma, über das wir gesprochen haben, übereinstimmt, und nicht in der Akutmedizin. Man kann schlicht keine lebensbedrohliche Dysenterie oder einen anaphylaktischen Schock mit dieser Akupunkturmethode behandeln.

Meine Frau erzählt oft folgende lehrreiche Geschichte: Als sie gerade ihre Praxis in Colorado eröffnete, rief eine Frau an, die nebenan wohnte und die begeistert war, nun eine Praxis in ihrer Nähe zu haben. Sie hatte ihre Achillessehne verletzt und fuhr seit einem Jahr jeweils mehr als eine Stunde nach Boulder, um in eine Akupunkturbehandlung zu gehen. JulieAnn gab ihr eine „richtige“ Behandlung. nach einer Woche sagte die Patientin, sie wäre beinahe nicht mehr gekommen, weil die Behandlung so intensiv war, ihre Achillessehne habe aber in einer Sitzung mehr Fortschritte gemacht als in einem Jahr. Eine Woche nach der zweiten Behandlung rief sie JulieAnn an und teilte ihr mit, dass die Verletzung nochmals viel besser geworden sei, sie aber trotzdem zu ihrem Therapeuten in Boulder zurückkehren werde. Die Patientin realisierte, dass sie stille und meditative Atmosphäre dort mehr schätzte als die richtige Behandlung ihrer Achillessehne.

Nur weil während einer Behandlung etwas passiert, bedeutet dies nicht, dass es die chinesische Medizin war. Zum Beispiel kann man mittels Akupunktur einen Patienten, der normalerweise nicht still sitzen kann, mit Nadeln im Körper ruhig in einem Raum liegenlassen.

Demselben Patienten wird es aber wahrscheinlich nicht möglich sein, von selbst eine halbe Stunde zu meditieren. Im Körper kann es zu verschieden Reaktionen aufgrund der aufgezwungenen Ruhe und der körperlichen Stille kommen. Entspannung oder Angst vor Bewegung können dazu führen, dass chemische Stoffe ausgeschüttet werden. In der Folge fühlen sich manche Patienten besser. Viele Behandlungsmethoden sind effektiv in der Welt der chronischen oder subakuten Krankheiten. Wenn man seine Behandlungsmethoden und Strategien nicht auch auf schwere Krankheiten übertragen kann, dann stellt sich die Frage, ob man eigentlich chinesische Medizin praktiziert. Wir schätzen Texte, in denen schwerwiegende Krankheiten diskutiert werden, aber wir hören aus dem Munde vieler Chinesen, chinesische Medizin könne keine Notfälle behandeln. Wenn man krank ist geht man ins West-Medizin-Krankenhaus und wenn man sich nicht wohl fühlt ins Chinesische. Wie töricht – in diesem Fall wäre in den letzten 3000 Jahren jedermann in China, der einen gebrochenen Arm hatte, mit dem Arm baumelnd herumgelaufen und hätte gesagt, „die chinesische Medizin kann zwar mein Arm nicht behandeln, aber meine Allergien sind deutlich besser dieses Jahr“. Der Hintergrund des Shang Han Lun ist, dass 2/3 von Zhang Zhongjings 200 köpfiger Familie innerhalb von 10 Jahren an Krankheit gestorben sind. Also suchte er alle Rezepturen die für die Behandlung der Influenza. Jedermann spricht über Zhang Zhongjing, Hua Tuo oder Sun Simiao – unsere Vorbilder -, aber niemand will ihren Medizinstil praktizieren. Geisterpunkte zu stechen besteht aus mehr, als nur die Nadeln hineinzustecken und die Patienten auf der Behandlungsliege ruhen lassen. Lesen Sie, wofür sie gebraucht wurden. Da behandelt man Verrückte, die sich möglicherweise nackt entblößen und singend durch die Straßen rennen. Ich habe solche Patienten gesehen. Oder man behandelt vielleicht jemanden, der Konvulsionen hat, mit Schaum und Blut im Mund, weil sie sich auf die Zunge gebissen hat. Zwei oder drei Personen müssen den Patienten festhalten, während man eine Nadel in einen dieser Punkte sticht. Auf Jemandem 300 Kegel Moxa zu verbrennen bringt Brandblasen auf den Fingern des Arztes und auf dem Körper des Patienten mit sich. Die Leute möchten zwar authentische Medizin lernen, sind aber nicht gewillt anzuerkennen, dass die Medizin genau für diese Art Behandlungen berühmt ist.

Die chinesische Medizin hat ihren Ursprung auf den Schlachtfeldern der Antike, nicht in ruhigen Räumen und nicht im Bedürfnis des Kaisers lange zu leben. Das kam erst später und ist ein wichtiger Bestandteil der Medizin. Zuerst war sie aber eine Medizin der Schlachtfelder – Cholera, Kriegswunden, Parasiten, Frostbeulen usw. mussten behandelt werden. Die Armeen, die in der Frühlings- und Herbstperiode und in der Zeit der 3 Königsreiche bewegt wurden, waren riesig. Wenn hunderttausende Soldaten durch ein Gebiet marschieren werden sie, auch unter besten Umständen, alle möglichen Krankheiten bekommen. Man müsste an einem Tag alle Arten von Dysenterie behandeln, was keinen Platz lässt für die Wichtigkeit des Fengshui der Klinik. Seit der Gründung der Association for Traditional Studies habe ich über 150 Seminare organisiert, übersetzt oder selbst gegeben. Was die Leute in China lernen wollen, ist nicht immer das, was ihnen beigebracht wird. Wenn dies einem Lehrer oft passiert, hört er entweder auf zu unterrichten oder er erzählt denn Schülern, was sie hören wollen. So wird das „Original zur Fälschung und das Verfälschte zum Original“.

DM: Aber da scheint etwas an der chinesischen Medizin und den Kampfkünsten zu sein, das den westlichen Verstand in die Richtung des Abstrakten, Esoterischen lenkt als auf die klare praktische Anwendung.

ANH: Das ist eine Tragödie. Scharlatanerie war aber immer in den chinesischen Künsten zu finden – in China bekannt als Jianghu – ein verbreiteter Begriff mit einer langen Geschichte.

Mit dem Verlust der Akutmedizin als Maßstab für die Qualität der Ärzte und dem Verschwinden der Kampfkunstduelle als Maßstab für den Taiji-Meister konnte der Jianghu in den letzten 60 Jahren ungehindert zunehmen. Vor ein paar Jahren konnte man einen „Arzt“ zur Hauptsendezeit in der Fernsehsendung „Staying Healthy“ sehen. Er behauptete dort, mit Mungobohnen diverse Krankheiten wie Diabetes und Krebs zu heilen. Innerhalb von wenigen Wochen stieg der Preis für Mungobohnen um das Dreifache und der „Arzt“ waren für sechs Monate ausgebucht, und das in China bei einem Preis von 500 Dollar pro Konsultation. Schliesslich wurde seine Praxis geschlossen und er wurde angeklagt, allerdings erfolglos. Die eigentliche Tragödie ist aber, dass nicht nur die Patienten betrogen wurden, sondern dass ihm auch viele Studenten geglaubt haben.

DM: Ich denke es haftet etwas am Qi Paradigma wofür der westliche Verstand sehr empfänglich ist. Selbst einfache Anleitungen, wie das Einstechen der Nadel und das Hervorrufen des Deqi oder das Ausbreiten der Empfindung auf dem Meridian, bedeutet für viele Personen – inklusive mir- die Involvierung von etwas wie Feenstaub anstatt etwas handfestes, physiologisches. Du verstehst, du sendest den Feenstaub in diese oder jene Richtung oder hältst im Qigong einen Ball aus Feenstaub …. Der Feenstaub und das Qi Paradigma passen eigentlich schön zusammen…

ANH: Geben wir der vagen Medizin ihren Anteil – sie bewegt etwas, und manche Leute verspüren eine Besserung. Anerkenne sie, gib ihr einen Namen, aber nenne sie nicht chinesische Medizin.

DM: Sprechen wir etwas vertiefter über das Nadel-Stechen und das Deqi. ist Deqi wichtig? An der jährlichen UK-Akupunktur-Konferenz gab es in einem Podium mit TCM-Literaten eine Grundsatz Diskussion über Deqi. Selbst nach eineinhalb Stunden Diskutieren kam man nicht vom Fleck, man konnte sich nicht einmal auf eine Grunddefinition einigen, um die Diskussion zu führen.

ANH: Also, es ist nicht Yin oder Yang, es Yin und Yang. Wenn man die Fähigkeit nicht hat, die Nadel flach in die Haut einzustechen, die Nadel in einem Mal durch eine Extremität durchzustechen oder die Nadel in einen dicken Muskel einzustechen und ihn zucken zu lassen oder mit der Nadel Eiter auszuleiten oder das Yuan Qi im unteren Jiao zu ankern dann hat man den Umfang des Deqi nicht voll verstanden. Um den Umfang zu begreifen, frag dich selbst, welches Qi du erhalten hast?

Ist es der Ausübende, der ein Qi-Gefühl durch die Nadel erlangt oder ist es der Patient der ein Qi-Gefühl von der Nadel verspürt? Oder hast du durch das Hervorrufen von Schwitzen das schädliche Qi beeinflusst? Das breite Konzept soll uns daran erinnern nach handfesten Veränderungen im Patienten zu suchen. Sinn ist nicht zu viel zu überdenken oder zu kodifizieren.

DM: Einige japanische Akupunktur-Stile haben sich auf die eine Seite des Spektrums spezialisiert und die chinesischen eher auf die andere. Wenn man chinesische Akupunktur ausübt, benutzt man große Nadeln und es schmerzt eher. Wenn man einen japanischen Stil praktiziert, benutzt man teure Nadeln und man will nicht, dass der Patient etwas verspürt…

ANH: Es macht mich traurig, wenn ein Praktizierender oder ein ganzes Land in einen Typ Akupunktur schubladisiert werden. Ich bezweifle, dass es vor dem Aufkommen der westlichen Medizin grosse Unterschiede zwischen einzelnen Praktizierenden oder einzelnen Ländern in Asien gegeben hat.

Mein Job ist es, eine Breite von Deqi-Fähigkeiten zu haben, die jede Situation umfassen können und die sich laufend verbessern. Der eine Patient braucht vielleicht Qi Arbeit, der andere eine glühende Lanzette. Ein weiterer hat möglicherweise eine Lungenentzündung, ein Athlet einen Muskelriss, oder eine Person ist in tiefer Trauer – alle brauchen verschiedene Nadeltechniken. Bei einer ganzheitlichen Medizin sollte es uns auch möglich sein, ganzheitlich zu behandeln – was wiederum bedeutet, dass wir eine Nadel ohne Empfindung oder mit sehr starker Reaktion einstechen können – mit allen Schattierungen dazwischen.

DM: Aber ich habe weder eine Ausbildung oder einen Stil gesehen, der all das unterrichtet. Man muss überall etwas einkaufen gehen – ein bisschen japanisch hier, ein wenig chinesisch dort und zusätzlich westliche Triggerpunkttherapie, um diese Breite an Ressourcen zu erreichen.

ANH: Es ist nicht falsch, mehr als ein Lehrer zu haben. Ich selbst hatte drei gute Lehrer, über die ich mich heute als Praktizierender und als Mensch definiere. Sie waren alle in China, aber deine sind vielleicht in Korea, Japan oder um die nächste Ecke. Wie auch immer dein Weg ist, das Ziel sollte immer sein, alles im Kontext der chinesischen Medizin-Theorie zu sehen, und nicht als separaten Stil. Es geht darum, verschiedene Dinge zu lernen, um ein besseres Verständnis des Ganzen zu bekommen.

DM: Kannst du etwas erzählen was „Qi-Arbeit“ bedeutet, und über Missverständnisse in diesem Zusammenhang. Zum Beispiel hört man oft die Idee, wenn man eine Nadel sticht, gibt man Energie durch die Nadel in die Person. Auch die Idee der Intention wird in diesem Zusammenhang immer wieder genannt – damit etwas „Gutes“ herauskommt, sollte man eine Art liebvolle Absicht während des Stechens haben.

ANH: Die grösste gute Absicht ist nicht so gut wie die kleinste gute Tat. Absicht heißt, etwas zu planen, was man noch nicht erledigt hat. Ich habe vielleicht die Absicht, morgen irgendwohin zu gehen, oder heute Abend italienisch zu essen. Ich kann alle möglichen Dinge planen, aber das bedeutet nicht, dass ich sie auch tun werde. Wenn man also plant, das Qi zu bewegen, ist der nächste Schritt zu fragen, wie man das bewerkstelligt, nachdem man seinen Plan angekündigt hat.

 

Fortsetzung folgt….

 

Andrew Nugent-Head wird ab September 2016 in Zürich sein komplettes Programm „Akupunktur für innere Medizin“ anbieten.

Weitere Informationen


 

Andrew Nugent-Head

Andrew hat es sich zur Aufgabe gemacht, Chinas traditionelles Wissen zu bewahren und zu vermitteln. In den 28 Jahren, in denen er in China gelebt hatte, lernte er mit den besten Meistern der chinesischen Medizin, der Kampfkünste, der inneren Kultivierung und der daoistischen Philosophie. Andrew war der einzige Schüler von Ba Gua Zhang Meister Xie Pei Qi der in allen drei Aspekten der Kunst unterrichtet wurde, das heisst in der chinesischen Medizin, in den Kampfkünsten und in der inneren Kultivierung. Dazu ist er der letzte „closing door“ Schüler und der designierte Nachfolger des über 90-jährigen Arztes Li Hongxiang. Andrew hat einen Master of Science in Oriental Medicine und einen Doktortitel der Zhejiang University of Chinese Medicine.

Als Begründer der Association for Traditional Studies unterrichtet er weltweit klassische chinesische Medizin.